Aufregung und hektische Betriebsamkeit bei vielen Verlagen und Sendern: Wie reagieren wir auf die Affäre um die teils frei erfundenen Texte des mit Journalistenpreisen überhäuften Claas Relotius ? Müssen zusätzliche Regeln her, um ähnliche Manipulationen im eigenen Haus zu verhindern ? Egal ob bei ZEIT, STERN, den Journalistenschulen oder den öffentlich-rechtliche Sendern – das große Nachdenken hat begonnen.
Doch noch eine andere Frage drängt sich auf: Warum gerade jetzt, nachdem der SPIEGEL von sich aus die Affäre um seinen Starreporter bekanntmachte? Weil es ausgerechnet den SPIEGEL getroffen hat, der sich bislang immer sehr selbstbewusst gab, sich als Hort des seriösen und hart recherchierenden Journalismus begriff ?
Denn eigentlich gab es in der Vergangenheit viele solcher Medienskandale, die eine ähnliche Aufregung verdient hätten.
Zum Beispiel in den 90iger Jahren die Filme des Michael Born speziell für Stern TV (aber auch Spiegel TV oder ZAK) über Ku-Klux-Klan-Treffen in Deutschland oder Kindersklaven in Indien, die für IKEA arbeiten. Alles frei erfunden und kunstvoll inszeniert. Born wurde berühmt als "Filmfälscher" und "Kujau des Fernsehens".
Oder der Fall Senait Mehari: Ihre Geschichte als "Kindersoldatin" wurde verfilmt, ihr Buch zu einem weltweiten Bestseller, ihre angeblichen Erlebnisse lieferte Stoff für große Artikel, gar Serien in BILD genau so wie im SPIEGEL oder der FAZ. In unzähligen (deutsche) Talkshows war sie ein gefeierter Gast. Hinterfragt wurde ihre ach so aufwühlende Geschichte von niemandem. Erst 2009 kam durch hartnäckige Recherchen des Medienmagazins ZAPP heraus: Alles Fake .......
Erinnert sei auch an die erfundenen Interviews des Tom Kummer, der den Begriff des "Borderline-Journalismus" in die Diskussion brachte. Erinnert sei auch an die vielen, vielen erfundenen Interviews und Promigeschichten in Boulevardmedien - seit langem und noch immer.
Nur wenige Beispiele von vielen, die eigentlich eine ähnliche, branchenweite Aufregung verdient hätten wie jetzt die Relotius-Enthüllungen.
Also: Warum gerade jetzt ? Und was geschieht in den Verlagen und Sendern konkret, damit es demnächst nicht wieder Aufregung um manipulierten Journalismus gibt? Gibt es schon brauchbare Vorschläge, die auch praxistauglich sind? Wächst das Misstrauen zwischen Autoren/innen und Reaktionen? Wie viel Kontrolle ist eigentlich möglich? Viele Fragen für eine längst überfällige Diskussion.
Links zum Thema: Claas Relotius Skandal: Transparenz und Glaubwürdigkeit (Die Zeit)
Fall Claas Relotius: Abschlussbericht der Aufklärungskommission - (Spiegel Online)
Fact-Checking: „Es geht um unseren Ruf“ (Deutschlandfunk)
Relotius und ich (Verena Carl)
Betrugsskandal: Mehr Demut im Journalismus täte gut (NDR Info)
Debatte mit hysterischen Zügen (taz)
After German Journalism Scandal, Critics Are ‘Popping the Corks’ (New York Times)
"Spiegel"-Affäre: Leute wie Claas Relotius werden gezüchtet (Hamburger Abendblatt)
Acht Redaktionen haben Belege für Relotius-Fälschungen gefunden (Journalist)
„Relotius hat sich davor gedrückt, seine Arbeit offenzulegen“ (FAZ)
Schädliche Neigungen (Message)
Bloggerin soll Holocaust-Opfer erfunden haben (Der Tagesspiegel)
Senait Mehari und ihr "Feuerherz" - Bestseller mit Brandschaden (Süddeutsche Zeitung)
Bestseller "Feuerherz" - Zweifel an Senaits Kriegsbiographie (Spiegel)
Tom Kummer (Wikipedia)
Grenzgänger (Der Freitag)
Michael Born (Wikipedia)
Was wir vom Fall Relotius lernen können (Journalist Magazin)